Zwar ist heute noch nicht Weihnachten in den USA, aber als Deutscher kann man diesen Tag nicht einfach verdraengen. Schliesslich hat man ihn in der Vergangenheit zu oft gefeiert. Leider muss Paul arbeiten, er wird erst um 22.00 Uhr nach Hause kommen. Ich werde ihm schoen was kochen. Dieses Jahr habe ich nur Karten ueber's Internet verschickt. Die letzten 7 Jahre habe ich immer fleissig Weihnachtskarten geschrieben und kaum welche bekommen. Das motiviert natuerlich nicht! Nachdem Paul zur Arbeit losgefahren ist, habe ich erst meine Oma und dann meine Eltern angerufen, um ihnen ein schoenes Fest zu wuenschen.
Mit meiner Oma habe ich fuer laengere Zeit erzaehlt. Ich bin ja so weit weg und denke, dass ich so wenigstens ein bisschen wieder gut machen kann. Ich hoere gerne ihren Geschichten von frueher zu und frage sie ueber ihre Kindheit aus. So lerne ich immer neue Sachen ueber meine Oma. 1945 zum Beispiel war ihr Vater im Krieg in Russland und ihre Mutter allein zuhaus mit 7 Kindern. Meine Oma war damals gerade mal 16 Jahre alt. An den Tag, an dem Halberstadt angegriffen wurde, kann sie sich noch gut erinnern. Sie erzaehlte mir von dem Sonntag und ein paar Stunden spaeter habe ich im Internet nach Infos dazu gesucht. Es war wirklich ein Sonntag und nach allem, was ich auf der Webseite "Dem Gleich fehlt die Trauer" - Ein Leseprojekt zum 60. Jahrestages des Luftangriffs auf Haberstadt gelesen habe, verstehe ich warum sie sich so gut erinnert. Auf der Webseite gibt es viele Texte, in dem Leute ihre Geschichte erzaehlen.
Rose Schicht von Homeyer schildert zum Beispiel: "So wanderten wir durch die noch brennende Stadt, vorbei an umgestuerzten Strassenbahnwagen, an riesigen Kratern, Leichen, entwurzelten Baeumen. Ich habe dieses Chaos kaum wahrgenommen, ich wusste nur eins: Ich muss heim! Heim? War es nicht ausgebrannt? Wir standen vor meinem Elternhaus, von dem es nur noch die Fassade gab, oede Fensterhoehlen mit dem Himmel dahinter. Es war aber jemand da, der wusste, wo meine Familie sich befand. In einer fremden Strasse, in einem fremden Haus. Dort wollte ich, erschoepft wie ich war, endlich einschlafen. Wieder Sirenen. Tieffliegende Jagdflugzeuge. Da war ich mit meinen Nerven am Ende. Ich verlangte von meinem Vater, er solle mich und das Baby mit seinem Jagdgewehr erschiessen. Gott verzeihe mir dies, aber ich war am Rande aller Kraefte." Man muss natuerlich im Kopf behalten, dass diese Frau gerade ein Baby zur Welt gebracht hat in dem ganzen Chaos.
Christa Frentzen schreibt ueber diesen Sonntag: "Es fing an zu krachen, erst aus der Ferne, dann immer naeher kommend. Das Licht ging aus, Staub kam durch alle Ritzen, es schwankte, die Kinder weinten laut. Man hatte das Gefuehl, bei dem naechsten Krach seid ihr dran. Ich war 17 Jahre alt und hab gebetet: Lieber Gott, lass mich noch nicht sterben, ich bin doch noch so jung! Hab immer nur die Haende gefaltet und war ganz ruhig. Andere warfen sich schreiend zu Boden und mussten beruhigt werden. Mutti und ich drueckten unsere Haende und dachten an Vati, der ja nun vor Halberstadt stand mit seinem LKW und nicht rein durfte. Er musste von aussen den Angriff auf Halberstadt mit ansehen und ist bald wahnsinnig vor Angst um uns geworden. Wir im Keller horchten auf, es war so unheimlich still geworden. Zwei Maenner nahmen ihre Taschenlampen und wagten sich zum Kellerausgang und zur Hoftuer. Sie kamen zurueck und sagten: Ihr koennt alle raus, es ist vorbei!� Jetzt heisst es nur noch: Rette sich, wer kann! Unser Haus Hoher Weg Nr. 43 stand noch, aber wo war der schoene Tag geblieben und die Sonne? Es war dunkel geworden, schwarze Rauchschwaden zogen ueber uns hinweg, Asche, Brandgeruch."
Komisch, meine Oma wohnt heutzutage im Haus Hoher Weg Nr. 21 (das Foto oben ist uebrigens vom Breiten Weg). Ich wollte erst schreiben, dass es damals schlimm gewesen sein musste, aber wen will ich denn verarschen? Die Wahrheit ist, dass ich mir so was ueberhaupt nicht vorstellen kann - nicht in dem jungen Alter, oder jetzt. Frau Frenzten schreibt am Anfang: "Die Hauptbummelzone war der Breite Weg mit seinen vielen kleinen und grossen Kaufhaeusern, Kaffees, Hotels, drei Eisdielen. Es machte einfach Spass durch unsere Stadt zu gehen. Und dann der Schock, der 8. April 1945, alles was man liebte an dieser Stadt, schlagartig weg. Ich kann es bis heute noch nicht verkraften, es tut immer noch weh!" Darin liegt fuer mich die Erklaerung, warum sich meine Oma nicht nur an den Wochentag, aber auch an so viele andere Details von damals erinnert. Ich bin sicher, dass dieses traumatische Erlebnis ihr Leben veraendert hat und sie mit 16 noch schneller erwachsen werden musste.
Vergessen sollten wir solche Ereignisse nie und nur durch den Dialog mit unseren aelteren Mitmenschen koennen wir von deren Leben lernen. Wenn wir wegschauen oder weghoeren sind wir nur ignorant. Der Mensch hat die besondere Gabe, sich umzudrehen und nach hinten zu schauen um vielleicht das, was noch vor ihm kommt, zu veraendern. Leute vergessen immer das Omas so viel mehr sind als nur Omas, schliesslich waren sie auch mal ein Kind, eine Tochter, ein Teenager, eine Schwester, eine Mutter, eine Feundin, eine Ehefrau, eine Tante und eine Witwe. Meiner Oma bereitet es grosse Freude ueber frueher zu erzaehlen, was ja auch Sinn macht, weil das bessere Zeiten waren im Bezug auf ihre Gesundheit, ihre Arbeit, ihr Aussehen, ihre Freunde usw. und ich hoere eben gerne zu. Naja, wir werden eben alle aelter und das ist fakt. Solange wir nicht wie meine Oma 77 Jahre alt sind, sollten wir eben nicht im Glasshaus mit Steinen schmeissen. Keiner weiss naemlich was kommt, nur was war...
1 Kommentar:
Vati läßt kein Film bzw. Dokumentationen, Zeitzeugen usw. über dieses Thema aus. Wir haben gerade den Film "So weit die Füsse tragen" gesehen (Tatsachenbericht über einen deutschen Gefangenen in Russland, der zu Fuß nach Deutschland ging). Da im Fernsehen sehr viel darüber kommt wird es auch nicht vergessen denke ich. Aber wenn die Generation wie Omas Jahrgänge ausstirbt, wird es sicher weniger, denn die Jugend entfernt sich immer mehr von diesem Thema. Auch wenn es nicht vergessen sein darf, so ist es 50 Jahre her und verblasst. Obwohl es ganz viele Bücher gibt. Vati war ja gerade zu einer Vorlesung und hat auch ein Buch darüber gekauft. Wir haben Torsten zu Weihnachten auch ein Buch aus dieser Zeit gekauft. Aber der Krieg tobt ja heute noch auf dieser Welt, leider. Mutti!
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